Gib den Geflüchteten ein Dach

Menschliche Wärme und praktische Unterstützung im Alltag


Der Konvent der Provinzialsächsischen Genossenschaft hatte im März 2022 eine Soforthilfe in Höhe von 50.000 € beschlossen. 

Die sieben Johanniter-Hilfsgemeinschaften der Genossenschaft konnten so Menschen unterstützen, die Geflüchtete aufgenommen hatten – zum Beispiel Familie Schmidt aus Mühlhausen, die elf Wochen Gastgeber war. Ihre Geschichte sei hier als Beispiel für das große Engagement von so vielen Gastgebenden geschildert, die sich seit einem knappen Jahr um Geflüchtete aus der Ukraine kümmern. 


Wenn Katrin Schmidt und ihr Mann in den Supermarkt fahren, ist der Einkaufswagen immer voll: Brot, Nudeln, Kartoffeln, Milch und Käse, Obst, Gemüse, Schokoaufstrich – was man halt so braucht für eine Familie mit acht Kindern. Als Mitte März vergangenen Jahres plötzlich noch fünf, später insgesamt sechs Gäste aus der Ukraine im Haus der Familie lebten, reichte ein Einkaufswagen nicht mehr aus. Die Geschichte begann an einem Abend am Familientisch, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, erzählt Katrin Schmidt. Die Nachrichten aus den Kriegsgebieten erreichten auch Mühlhausen im Nordwesten Thüringens, Eltern und Kinder waren geschockt von den Bildern aus den Kampfgebieten, überlegten, wie sie selbst helfen könnten. Schnell war da die Idee mit dem Gästezimmer im Haus. Dort wo sonst der Familienbesuch wohnt, sollten nun Fremde ein Zuhause auf Zeit finden können. Und weil die Schmidts selbst viele sind, war für sie klar: sie nehmen eine große Familie auf. 



Christine Sobczyk, JHG-Beauftragte der Genossenschaft: "So wie die Schmidts haben zwischen Altmark und Thüringer Wald viele Privatmenschen spontan Hilfe für Geflüchtete angeboten, einfach so, einfach, weil sie die Not spürten und helfen wollten. Diese gelebte Nächstenliebe konnten wir als Johanniter Hilfsgemeinschaft mit unserer Hilfe vor Ort unterstützen. Wie viele andere wollten auch wir in den Hilfsgemeinschaften helfen, nachhaltig und pragmatisch ohne in Aktionismus zu verfallen. Wir wandten uns bewusst an die Gastgebenden, denn es zeichnete sich rasch ab, dass auch die Helfenden Unterstützung brauchen. Und es war völlig unklar, ob und wenn ja wann, es staatliche Angebote geben würde."



Sechs Menschen mehr. Im Alltag war plötzlich nichts mehr wie immer. Die Schmidts teilten Küche und Esszimmer, im Wohnzimmer wurde nachts die Schlafcouch ausgeklappt. Was macht das mit einer Familie, die durchorganisierte Routinen braucht? „Ja, manchmal war es sehr chaotisch.“, lacht  Katrin Schmidt rückblickend. Vor allem, wegen der unterschiedlichen Tagesabläufe von Gästen und Gastgebern. Gewöhnlich stellt Katrin Schmidt um sechs Uhr morgens die erste Waschmaschine an, doch die blieb nun zu dieser frühen Stunde aus, damit es im Haus leise war. In der Küche stapelte sich Geschirr der Gäste, tropften Kaffeereste über den eigenen sauberen Abwasch. Während die einen bis Nachmittag um fünf Uhr Kaffee tranken, mussten die anderen abends um sechs bereits Abendbrot essen. 

Manchmal wurde der Tisch für alle gedeckt, doch dann stand das Geschirr der Gäste stundenlang unberührt da. Oder abends, wenn die Kinder vor dem Zubettgehen noch einmal richtig aufdrehten und die Mutter mit Rücksicht auf die Gäste nicht so konsequent war, wie eigentlich angebracht. Das waren Situationen, die Katrin Schmidt mürbe gemacht haben und in denen sie kurz zweifelte, ob sich die Familie mit ihrer Gastfreundschaft nicht übernommen hatte. 


"Uns war von vornherein wichtig, nicht einfach nur Geldsummen an die Gastgebenden zu überweisen. Die hatten mit der Aufnahme der Geflüchteten teilweise ihren Alltag auf den Kopf gestellt. Deshalb suchten die JHG-Mitglieder Gespräche mit den Gastgebenden, hörten zu, boten Austausch und Unterstützung an und bestärkten sie in ihrem selbstlosen Tun, damit auch sie wieder Kraft schöpfen konnten."


Katrin Schmidt erzählt von diesen Zweifeln, unbefangen, um gleich danach zu beteuern, dass sie nur von kurzer Dauer waren. Nein, grundsätzlich sei da immer das Gefühl gewesen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die Zeit mit den Geflüchteten im Haus lehrte sie, auch mal etwas laufen zu lassen, nicht alles von A bis Z durch zu planen. Ja, eine gewisse Grundgelassenheit an den Tag zu legen. Denn vieles konnte sie einfach nicht selbst beeinflussen. Zum Beispiel die langen Entscheidungswege der Behörden. 

Allein die Termine wegen der Aufenthaltsbescheinigungen, der Wohnungssuche, der Kontoeröffnungen oder beim Jobcenter beschreibt Schmidt als stressig. Immer die zweijährige Tochter dabei, begleitete sie neben der Betreuung zu Hause ihre Gäste auch zu diesen Terminen. Wartestunden in Ämtern zählen für eine Mutter mit großer Familie doppelt. Mit Dankbarkeit erzählt Katrin Schmidt  von den guten ukrainischen Suppen, die die 51jährige Alevtina nach solchen Terminen gekocht hatte. Diese Entlastung war für sie wie ein Geschenk gewesen  

Doch es war nicht nur das Essen, dass die Schmidts mit ihren Gästen teilten. Da waren auch die Sorgen und Ängste der Geflüchteten, die den Ukraine-Krieg den Schmidts so plötzlich ins eigene Haus brachten. Als Alevtina tagelang um ihren Sohn und Schwiegersohn bangte, saß Katrin Schmidt einfach nur neben ihr, strich ihr über den Arm. Und wenn die Kommunikation sonst vor allem über digitale Übersetzungsprogramme lief, genügten hier einfach Blicke um zu trösten. 

 



"Solche und ähnliche Schilderungen hörten unsere JHG-Mitglieder oft in den Gesprächen mit den Gastgebenden, persönliche Schicksale, die auch uns allen zu Herzen gingen und uns mitunter sprachlos machten. Es tat gut, diese Erfahrungen untereinander zu teilen."


Als die Schmidts ihr Gästezimmer öffneten, gingen sie davon aus, dass es nur für kurze Zeit nötig sein würde. Dass elf Wochen vergehen werden, bis die Familie aus Mariupol eine eigene Wohnung beziehen und auf staatliche Hilfe in Deutschland zählen konnte, war nicht zu ahnen. Elf Wochen können lang werden, wenn sechs Menschen zusätzlich verpflegt werden müssen, von einer Familie, die selbst zu rechnen hat. Allein das monatliche  Familienbudget für Lebensmittel stieg um ein Drittel. Da erfuhr Katrin Schmidt von der JHG-Aktion und war überrascht wie unkompliziert sie für die Betreuung ihrer Gäste finanzielle Hilfe erhalten konnte. 


Momentaufnahme einer Videokonferenz. Bild: Sobczyk
Momentaufnahme einer Videokonferenz. Bild: Sobczyk

"Genau das war unserer Anliegen gewesen, schnell und unbürokratisch zu helfen. Doch dafür mussten wir uns erst einmal unter hohem Zeitdruck die notwendigen Strukturen überlegen und schaffen. Dankbar konnten wir dabei auf das große Netzwerk der Johanniter-Familie zurück greifen, bekamen unter anderem Unterstützung bei der Klärung der rechtlichen Fragen, außerdem von der Johanniter HealthCare-IT Solutions GmbH, beim Web-Auftritt, von der Johanniter Unfallhilfe bei allen grafischen Fragen und hatten im sehr guten Miteinander innerhalb der Genossenschaft Stärkung für unsere gemeinsame ehrenamtliche Arbeit. Das wertschätzende Miteinander ist besonders und macht handlungsfähig. Die jahrelange Arbeit der Hilfsgemeinschaften vor Ort waren hier hilfreich. In regelmäßigen Online-Konferenzen trafen wir uns mit allen sieben JHG der Genossenschaft zu aktuellen Fragen. Hierbei konnten wir sehr schnell, umfassend und übergreifend handeln und gut funktionierende Lösungen übertragen. Mit Freude stellten wir dann von Woche zu Woche fest, dass unsere Öffentlichkeitsarbeit wahrgenommen wurde, sich die Aktion herumsprach."


Inzwischen wohnt die Familie von Alevtina in einer eigenen Wohnung, rund 100 Meter entfernt von den Schmidts, nah genug also, um auch weiter verbunden zu bleiben. Katrin Schmidt hat inzwischen den Alltag ihrer eigenen Großfamilie wieder geordnet, ihre Einkaufswagen sind jetzt wieder deutlich leerer, ihr Herz dafür umso voller.